Quo vadis, E. Coli?

Ein SPIEGEL-Essay von LicetBovi

Hamburg im Juni: Angst liegt bleischwer über der Stadt, lastend wie eine tränengetränkte Decke.
An den neonstrahlenden Straßenecken St. Paulis, wo sonst ausgelassene Jungmännergruppen fröhlich in Hauseingänge urinieren, kauern schluchzend wimmernde Gemüsehändler und träumen von der verkauften Ernte des vergangenen Jahres.
Bleiche Städter streifen ziellos durch die Gassen, hohlwangig und mit radgroßen Ringen unter dem Auge, sichtbar geschwächt durch den Vitaminmangel der letzten Wochen. Skorbut, einst Menetekel der Seefahrer die hier an Land gingen, ist nicht mehr nur ein Raunen aus der fernen Vergangenheit, ein Klabauter in wirrem Seemannsgarn, nein, es ist eine Drohung näher als der Horizont, ferngehalten nur noch von Vitaminpillen, Präparaten, den Rettungsankern der modernen Zivilisation.
Die Furcht klebt an den Fersen der Passanten, schleichend und alles durchdringend wie der Keim, der die Gurke des täglichen Brots infiltriert wie eine faule Metapher einen Satz.

Hamburg, das Tor zur Welt, die strahlende Kulturmetropole, die Umwelthauptstadt, ist im Würgegriff der Seuche, der Epidemie. Die vier Buchstaben, das Akronym, das sie hier alle kennen und dessen Nennung sie alle erzittern lässt: EHEC.

Niemand hier, keiner in dieser sonst so pulsierenden Metropole, kann sich der furchtbaren Faszination der grassierenden Krankheit entziehen, nicht der eloquente Politiker auf den Stufen des historistischen Rathauses, nicht der zynische Banker in seinem glitzernden Glaspalast, nicht die Kreativen mit ihrem Laptop, auch nicht die verschworenen Linksautonomen in ihrer bunt-beschmierten, abweisenden Trutzburg, der Roten Flora. Selbst in diesem letzten der staatlichen Ordnung entzogenen Winkel des Widerstands können die Augen in den vermummten Gesichtern nicht verschlossen werden vor dem Grauen, das da umgeht in den Straßen des Viertels, der Stadt.

Wochen, ja Tage ist es her, dass Schulkinder unschuldig mit frohem Lachen ihre Pausengurken schwenkten, Mütter ihren Kleinen lächelnd die Tomate reichten, Döner mit Alles noch wirklich Döner mit Alles war.

Hoffnungslosigkeit macht sich breit, Angst, nicht nur vor der furchtbaren Krankheit, auch vor ihren verheerenden Auswirkungen auf die Gemeinschaft, vor dem Auseinanderbrechen der Gesellschaft, der Anarchie.
Schon brennen in den übel beleumdeten Vierteln der Stadt, brennen in Eimsbüttel und Othmarschen die Autos, verbarrikadieren in den noblen Vororten Billwerder und Steilshoop die Händler die Fenster ihrer schicken Geschäfte – in Erwartung des plündernden Mobs, dessen verzweifelter Raserei wohl nur die Auslagen der Gemüseläden nicht anheim fallen werden.

Ein Keim, tausendfach kleiner als ein menschliches Sandkorn, hat geschafft, was in all den Jahren Chaoten und Steinewerfer nicht vermochten: Hamburg, die Stadt, die so stolz die wehrhafte Festung im Wappen führt, steht am Abgrund.

Doch plötzlich, am Ende einer schicksalsschweren Woche, in der eine in ihrer Gnadenlosigkeit maßlose Natur die gestraften Hanseaten noch mit einer Sintflut prüfte, erschallt, erst leise und zögernd, doch dann immer lauter und gewisser, der Ruf: Die Sprossen warn's!
Und bald schon strömen die Menschen in die Gassen, eilen zu den Märkten und Supermärkten, sie reißen den erlösten Händlern förmlich das lang entbehrte Gemüse aus der Hand, beißen, als wärs das erste oder letzte Mal, noch im Laden in die erntefrische Gurke, liebkosen die Tomate wie eine lang ersehnte Geliebte, ergeben sich dem Genuss des Gemüses auf eine Art und Weise, die einem zivilisierten Menschen die Schamesröte ins Gesicht triebe, wüsste man nicht um die Angst und um das Leid, die bzw. das hinter diesen Menschen liegt.

Hamburg, so scheint es, ist, wie 1892, wie 1943, wie 1962 ein weiters Mal dem Untergang entronnen. Wie aus den Schicksalsschlägen zuvor wird die Stadt auch aus dieser Katastrophe gestärkt hervorgehen, kaufkräftiger, selbstbewusster, bornierter.

Lesen Sie nächste Woche: Es ist ein Keim entsprossen - die Tragödie Bienenbüttels.