Ersatzzustellung

Im Briefkasten war eine Zustellbenachrichtigung.
Ein Paket hatte ich erwartet, aber vermutlich die Klingel mal wieder überhört.

Der Name der Nachbarin oder des Nachbarn, bei dem die Ersatzzustellung erfolgt war, war mir fremd – obwohl sogar "Erdgeschoss" auf der Karte vermerkt war. Auf meiner Etage, so dachte ich, sollte ich doch längst alle kennen.

Die Karte in der Hand bog ich nachdenklich auf dem Weg zu meiner Wohnung um die Ecke des Flurs. Und da bemerkte ich, nach all den Jahren zum ersten mal, neben der meinen noch eine weitere Wohnungstür. Nicht gegenüber – die Leute da kannte ich ja – sondern wirklich direkt rechts daneben, höchstens zwei-drei Meter entfernt. Meine Wohnung, so hatte ich bislang immer gedacht, grenzt doch direkt an den Hausflur – auch wenn ich mich schon gelegentlich über Geräusche gewundert hatte, die durch die Wand drangen.

Ich sah die mir bisher unbekannte Tür näher an, und tatsächlich: in der Mitte, direkt unter dem Spion, war ein Messingschild angebracht. In das war in Großbuchstaben genau der Name graviert, den mir die Paketkarte für die Ersatzzustellung angab.
Erstaunt und ohne weiter zu überlegen betätigte ich den Klingelknopf neben der Tür.
Von drinnen ertönte ein tiefer und obertonreicher Klang, offenbar ein echter Gong und kein elektronisch erzeugter Ton wie bei mir. Kurz darauf ertönten Schritte von Stöckelschuhen auf einem Steinfußboden, die Tür wurde schwungvoll geöffnet, und vor mir stand eine alte, elegante Frau, hochgewachsen und mit aufwändig frisiertem weißen Haar. Sie war zurückhaltend geschminkt und trug dezenten, aber offenbar wertvollen Schmuck, ihr perfekt geschnittener Anzug betonte die drahtige Figur.

Sie empfing mich mit einem strahlenden Lächeln: "Ah, Herr Rühling! Ich habe Sie bereits erwartet; Sie kommen wegen des Paketes."
Während ich mich noch über den überaus korrekten Genitiv freute – üblich waren eher Formulierungen wie  "wegen dem Paket", wenn nicht  "wegen das Paket" – bat sie mich mit einladender Geste in ihren Wohnungsflur. "Ich suche es schnell heraus".

Ich folgte ihr in den spärlich beleuchteten Gang, der sich nach rechts und links jeweils einige Meter erstreckte und von dem mehrere Türen in beide Richtungen abgingen. Vor einer der Türen bedeutete sie mir wortlos zu warten, während sie selbst in paar Schritte in das dahinter liegende Zimmer tat, wo unweit des Eingangs tatsächlich zahlreiche Pakete gestapelt waren.
Das Zimmer war, soweit ich es sehen konnte, äußerst geräumig, anscheinend eine Art Bibliothek oder Studierzimmer. An seiner von mir aus linken Wand konnte ich gerade noch einen breiten Durchgang erkennen, der offenbar zu einem großen, stilvoll eingerichteten Salon führte. Die hohen Fenster waren mit leichten Gardinen verhangen, durch den feinen Stoff schimmerte blau der Himmel.
Erneut wunderte ich mich, denn von meinen Fenstern – die doch direkt nebenan liegen sollten – konnte ich lediglich die gegenüberliegende Häuserfront sehen.
Einige Meter weiter zu meiner Rechten den Flur hinab stand eine weitere Tür offen, ich konnte einen schwarz-weiß gefliesten Boden erkennen sowie teilweise einen großen Kühlschrank im Stil der 1950er Jahre – offenbar die Küche.

"It's bigger on the inside" sprach ich in meiner Verblüffung zu mir selbst, aber offenbar laut, denn die Hausherrin wandte sich mir zu und sagte lachend: "So etwas höre ich oft von Gästen! Aber mit ein wenig Geschmack lässt sich eben auch auf kleinem Raum viel erreichen!"
"Ich hatte eher Timelord-Technologie vermutet", murmelte ich, immer noch verblüfft und offenbar immer noch laut, denn sie sah mich irritiert, aber freundlich an – ihrem Blick war zu entnehmen, dass sie die Anspielung nicht verstand und es ihr egal war.
Sie fischte ein Päckchen aus dem Stapel und reichte es mir: "Ah, hier ist ja ihr Paket!" Noch während ich mich bedankte und prüfte, ob es sich wirklich um die erwartete Sendung handelte,  griff sie zu einem weiteren Karton im Stapel: "Und das gebe ich Ihnen auch noch gleich mit. Das kommt zwar erst morgen, aber so müssen Sie nicht zweimal her!".
Überrumpelt nahm ich auch das zweite Paket unter den Arm.

Im gleichen Moment ertönte ein schrilles, metallisches Klingeln. Erst jetzt sah ich weiter hinten links im Flur auf einem im Dunklen kaum noch zu erkennenden Nussbaum-Sekretär  ein uraltes Telefon stehen. Es war offenbar ein schwarzes Bakelit-Modell aus den 1920er Jahren, mit klobigem Hörer, der über ein Textilkabel mit dem Wählscheibengerät verbunden war.
"Oh", rief meine Ersatzzustellungsempfängerin und dirigierte mich in Richtung der Wohnungstür, "bitte entschuldigen Sie mich! Das ist sicher meine Witwe!"

Sie schob mich freundlich, aber nachdrücklich durch die Wohnungstür in den Hausflur.

Die Tür schloss sich hinter mir und ich hörte, wie der Klang ihrer Schuhe sich rasch auf dem Steinfußboden entfernte.

Wie automatisch stolperte ich die fünf-sechs Schritte zu meiner eigenen Wohnung. Ich schloss die Tür auf und bugsierte mich selbst samt meiner Pakete, von denen eines erst morgen kommen würde, in den engen Eingangsbereich. Die Kartons stellte ich erst mal einfach ab. Mich darum kümmern und sie öffnen würde ich in zwei oder drei Tagen.

Denn ich will ja nicht die Zeitlinie stören.

Weder die seltsame Wohnungstür noch gar meine betagte Nachbarin habe ich danach je wieder gesehen.